Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben, die sich mit der Differenzierung von Nachtzuschlägen befassten. Die Karlsruher Richter betonten dabei die besondere Bedeutung der Tarifautonomie und stellten klar, dass staatliche Gerichte nur eingeschränkt in tarifliche Regelungen eingreifen dürfen.
Die Ausgangsfälle betrafen Tarifverträge der Getränke- und Lebensmittelindustrie. Diese sehen unterschiedliche Zuschläge für Nachtarbeit vor: Regelmäßig im Schichtdienst tätige Arbeitnehmer erhalten 25 Prozent, während unregelmäßig und kurzfristig eingesetzte Nachtarbeiter 50 Prozent erhalten. Diese Differenzierung war zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften vereinbart worden.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte darin eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gesehen. Es entschied, dass auch die Schichtarbeiter Anspruch auf einen Zuschlag in Höhe von 50 Prozent haben, da die Unterschiede in der Arbeitsweise nicht ausreichten, um eine unterschiedliche Bezahlung zu rechtfertigen. Dabei argumentierte das BAG, dass auch unregelmäßig eingesetzte Nachtarbeiter laut Tarifvertrag Anspruch auf Berücksichtigung ihrer privaten Interessen hätten, sodass der Unterschied zur Schichtarbeit nicht groß genug sei, um eine Differenzierung in der Entlohnung zu rechtfertigen.
Verfassungsgericht hebt Urteile auf und betont Tarifautonomie
Das Bundesverfassungsgericht widersprach dieser Auffassung und gab den klagenden Arbeitgebern Recht. Die Karlsruher Richter verwiesen auf die grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie. Diese gewährleistet, dass die Tarifvertragsparteien eigenständige Regelungen zur Arbeitsvergütung treffen können, ohne staatliche Einmischung. Eine gerichtliche Überprüfung von Tarifverträgen sei nur in engen Grenzen zulässig und dürfe lediglich willkürliche Grundrechtsverstöße unterbinden.
Im konkreten Fall sah das Verfassungsgericht eine sachliche Rechtfertigung für die Differenzierung. Schichtarbeiter hätten im Vergleich zu anderen Nachtarbeitern oft Vorteile wie bezahlte Pausen oder zusätzliche Freizeittage. Zudem sei eine planbare Nachtschicht weniger belastend als unregelmäßige oder kurzfristige Nachtarbeit. Diese Unterschiede könnten eine unterschiedliche Vergütung durchaus rechtfertigen.
Bundesarbeitsgericht muss neu entscheiden
Ein weiterer Kritikpunkt des Verfassungsgerichts war, dass das Bundesarbeitsgericht die Zuschläge eigenmächtig angepasst hatte. Selbst wenn eine Ungleichbehandlung vorliegen sollte, sei es Aufgabe der Tarifvertragsparteien und nicht der Gerichte, eine Korrektur vorzunehmen. Die Karlsruher Entscheidung bedeutet daher, dass das Bundesarbeitsgericht die Fälle erneut prüfen muss – diesmal unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Tarifautonomie.
Auswirkungen auf die Arbeitswelt
Das Urteil hat weitreichende Konsequenzen. Tariflich festgelegte Unterschiede in der Vergütung vergleichbarer Arbeit sind häufig, insbesondere bei Nachtzuschlägen. Bereits jetzt liegen zahlreiche ähnliche Fälle bei den Arbeitsgerichten. Nach Schätzungen sind allein beim Bundesarbeitsgericht rund 400 Verfahren anhängig, in den unteren Instanzen könnten es bis zu 4.000 sein.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zeigte sich überrascht über das Urteil und sprach von einer "Kehrtwende" im Vergleich zu früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Arbeitgeber hingegen begrüßen die Klarstellung zur Bedeutung der Tarifautonomie und sehen darin eine Stärkung der Verhandlungsfreiheit der Tarifparteien.
Quellen: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2025/bvg25-017.html?nn=148438
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/bundesverfassungsgericht-nachtschicht-tarifautonomie-100.html
Az. 1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23